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Literatur für die Ohren: Der Cluster Temporal Communities

Mit der Audio-Ausstellung „Zugetextet – Literatur als intermediale Praxis“ eröffnet der Exzellenzcluster „Temporal Communities“ der Freien Universität neue Perspektiven auf Ausstellungsobjekte im Humboldt Labor.

Im Jahr 1806 lösten sich Gesteinsmassen am Rossberg und begruben das Schweizer Dorf Goldau unter einer meterdicken Schuttschicht. Dieser Bergsturz war eine der schwersten Naturkatastrophen der Schweiz. Um begreifbar zu machen, was geschehen war, schuf der aus Goldau stammende Schneider Joseph Martin Baumann ein paar Jahre später zwei Reliefs des Bergsturzes, die in der Eröffnungsausstellung des Humboldt Labors gezeigt werden.

Diese mehr als 200 Jahre alten Modelle faszinierten Simon Godart sofort. Gemeinsam mit anderen Postdoktorand:innen Exzellenzclusters „TEMPORAL COMMUNITIES: DOING LITERATURE IN A GLOBAL PERSPECTIVE“ der Freien Universität Berlin hat Godart Audio-Beiträge für die Ausstellung im Humboldt Forum entwickelt. Die Postdocs haben sich 15 Ausstellungsobjekte oder Objektgruppen ausgesucht, die sie persönlich interessant fanden und verknüpfen diese mit Auszügen aus literarischen Texten und eigenen Reflexionen.

Ausstellung in der Ausstellung

Die Hörstücke knüpfen Beziehungen zwischen Sammlungsobjekten und literarischen Texten, die wie die Objekte aus unterschiedlichen Epochen und politisch-kulturellen Zusammenhängen stammen. Auf diese Wiese verbinden sie Besucher:innen, die mit ihren eigenen Erfahrungshintergründen in die Ausstellung kommen, mit der Gedankenwelt von Menschen aus anderen Kontexten/Lebenswelten. Dr. Gorch Pieken, leitender Kurator der Auftaktausstellung im Humboldt Labor, bezeichnet „Zugetextet“ als „unsichtbare Ausstellung innerhalb der Ausstellung, durch die der Exzellenzcluster weitere Zugänge zu den ausgesuchten Bedeutungsdingen und Verweisobjekten eröffnet.“

Zu hören sind jeweils ein literarisches Zitat und ein erläuternder Text, der die Verbindung zum jeweiligen Ausstellungsstück herstellt. „Das Zitat kann die Objekte ergänzen, konterkarieren oder auch weiterdenken. Immer geht es um eine produktive neue Perspektive“, sagt Dr. Petra Wodtke, Wissenschaftliche Koordinatorin des Berlin Partners Network des Exzellenzclusters. Bei einigen Beiträgen gibt es auch einen dritten Teil zu hören: Gespräche, in denen die Forscher:innen Einblick in ihre Perspektiven und den Arbeitsprozess geben. „Wir wollten transparent machen, dass Forschung immer dialogisch stattfindet. Und wir wollten den oft anonym bleibenden Forschenden selbst eine Stimme geben“, erklärt Wodtke.

Für ihre Audio-Ausstellung haben die Postdocs unterschiedliche Objekte ausgewählt, darunter die Kinderbibel einer deutschen Sekte in Chile, eine leere Flasche Fairy Liquid oder den in ein Kleidungsstück eingenähten Hilferuf eines Textilarbeiters aus Bangladesch. Simon Godart ließ sich bei seiner Wahl vom Unbekannten faszinieren. „Ich war sofort von Ausstellungsstücken angezogen, die irgendetwas mit Bergbau und Gesteinen zu tun hatten. Das fand ich spannend, weil ich davon überhaupt keine Ahnung habe“, erzählt er. Einer seiner Beiträge widmet sich einem sogenannten „Seigerriss“, einer Schnittzeichnung, die den unterirdischen Verlauf von Stollen nachvollziehbar macht. „Wenn man sich denn darauf versteht, solche Risse zu entziffern“, sagt Godart über das für ihn immer noch „rätselhafte Objekt“.

Ein weiterer Beitrag widmet sich dem Schweizer Bergsturz. Bei seiner Literaturrecherche stieß Simon Godart auf ein Buch des Arztes Karl Zay „Goldau und seine Gegend: Wie sie war und was sie geworden“ (1807), in dem das Ereignis ausführlich beschrieben wird. Zu Godarts Freude beginnt das Buch mit einem Zitat des Dichters Vergil. Der Autor schlägt eine Brücke in die Antike, um daran eigene Gedankengänge anzuknüpfen. „Das ist der Nachweis für unser Theorem, dass sich literarische Zeitlichkeiten bemerkbar machen – auch dort, wo man es nicht erwartet“, sagt der promovierte Philosoph.

„Zugetextet – Literatur als intermediale Praxis“ ist keine Hörführung im klassischen Sinne. Die Beiträge haben keine vorgegebene Reihenfolge und sind unabhängig von der Audio-Führung, die in eine Überblicks-Tour durch alle Ausstellungen im Humboldt Forum eingebettet ist. Durch die Beiträge von Temporal Communities werde erlebbar, was Top-Forscher:innen zu den Sammlungsobjekten einfällt, sagt Gorch Pieken. Die Hörführung sei ein „Paradebeispiel“ für die sogenannte Third Mission zur Verbreitung und Popularisierung von Forschung und Lehre weit über die Grenzen der Universität hinaus.

© Humboldt-Universität zu Berlin, Geographisches Institut, Geomorphologisch-Geologische Sammlung / Sanitätsakademie der Bundeswehr München (Gemälde) / Ausstellungsgestaltung: Inside Outside, Petra Blaisse / Foto: Philipp Plum

Modelle des Bergsturzes von Goldau 1806 in der Ausstellung „Nach der Natur“ im Humboldt Labor

Gemeinschaften auf Zeit: Der Cluster Temporal Communities und Literatur als Praxis

Mit ihrem Beitrag zeigen die Postdocs auch, was Literatur aus der Perspektive des Exzellenzclusters bedeutet. „Für uns ist es wichtig, Literatur als Praxis zu verstehen; als etwas, was Beziehungen zwischen Menschen, Texten und Objekten stiftet – durch die Zeit und durch den Raum“, erklärt Anita Traninger, Professorin für Romanische Philologie mit dem Schwerpunkt Rhetorik an der Freien Universität und Sprecherin des Exzellenzclusters. Literatur wird als Phänomen erforscht, das über kulturelle Räume und verschiedene Epochen hinweg Beziehungen stiftet und dabei Gemeinschaften auf Zeit, also „Temporal Communities“, herstellt.

Ein Beispiel dafür sei die Rezeption der Epen Homers, erklärt Andrew James Johnston, Professor für Englische Philologie an der Freien Universität und Sprecher des Exzellenzclusters. Die Zeitgenoss:innen des griechischen Dichters bilden eine Gemeinschaft mit späteren Generationen, die die Stoffe der Ilias und Odyssee auf der italienischen Opernbühne des 17. Jahrhunderts sehen. Auch die Zuschauer:innen des Hollywood-Films „Troy“ (Troja) von 2004 gehören zu dieser Gemeinschaft. „Der Stoff wird immer wieder abgewandelt und adaptiert, für neue Publika in unterschiedlichsten Medien aufbereitet und dient unterschiedlichsten Formen der Identitätsstiftung“, erklärt Johnston.

Der Ansatz des Exzellenzclusters unterscheide sich von literaturwissenschaftlichen Positionen, die allein den Text ins Zentrum stellen oder vor allem die ästhetische Ebene in den Vordergrund rücken und dabei die soziale, mediale oder materiale ignorieren, erklärt der Sprecher des Clusters. „Literatur ist mehr als das, was zwischen zwei Buchdeckeln stattfindet“, unterstreicht Anita Traninger. Das bedeutet: Literatur wird nicht nur als gedrucktes Wort, sondern auch eine Form des sozialen Handelns begriffen. An diesem „Doing Literature“ beteiligen sich beispielsweise Autor:innen und Leser:innen, aber auch Verleger:innen.