Colonia Dignidad: Zeugnis von inneren Widersprüchen liberaler Demokratien
Auch der chilenische Militärputsch 1973 gegen den gewählten Präsident Salvador Allende war von einem demokratischen System unterstützt worden: den USA. „Die Schutzmacht der modernen Demokratie hat dafür die eigenen Werte verraten“, betont Gorch Pieken. Damit steht die Kinderbibel auch in Bezug zu aktuellen wissenschaftlichen Forschungen. Denn mit solchen inneren Widersprüchen liberaler Demokratien beschäftigt sich der Berliner Exzellenzcluster „CONTESTATIONS OF THE LIBERAL SCRIPT (SCRIPTS)“, in dessen Forschungsprojekte das Humboldt Labor Einblicke gibt.
Um die politischen Zusammenhänge zu veranschaulichen, wird neben der Kinderbibel auch eine Art Organigramm gezeigt, das Einblicke in das Abhängigkeits- und Beziehungsnetz der Colonia Dignidad gibt.
Die Kinderbibel hat das ehemalige Sektenmitglied Robert Matthusen der HU als Leihgabe überlassen. Als Kind und Jugendlicher besaß er kein eigenes Exemplar, denn die Bücher wurden unter Verschluss gehalten. Abends habe die Person, die für die Kinder zuständig war, aus der Kinderbibel vorgelesen, erinnert sich Matthusen in einem Interview mit der Leipziger Produktionsfirma LOOKSfilm, die an einer Dokumentar-Serie über die Colonia Dignidad arbeitet.
Besonders gefallen hätten ihm die Geschichten von Noah und Moses. Später habe er seinen eigenen Kindern aus dem „Schild des Glaubens“ vorgelesen.
Zu Schäfers Zeiten habe niemand damals darüber gesprochen, dass einige Bilder und Textpassagen überklebt waren. Erst, als Matthusen später eine unzensierte Bibel in die Hände bekam, verstand er, was vor sich ging. Zensiert worden war alles, was mit Familie oder Sexualität zu tun hatte – Stellen wie: „Und zu Eva sprach Gott: Mühsal und Schmerzen will ich dir schaffen, wenn du Mutter wirst.“
Paul Schäfer habe behauptet, dass Kinder direkt aus den Armen Gottes kommen, berichtet Matthusen. Männer und Frauen mussten getrennt leben, Liebesbeziehungen und Familienleben durfte es nicht geben. Wenn eine Frau in der Kolonie schwanger war, habe sie sich verstecken müssen. „Deswegen hat auch keiner von uns geahnt, wie ein Kind zur Welt kommt.“ Schäfer nutzte seine Version des Christentums, um Menschen gefügig zu machen. Er habe die Bibel missbraucht, um das „Gewissen zu fesseln“, sagt Matthusen. Die Heilige Schrift, auf die sich der Sektenführer berief, zensierte er selbst. „Was dem eigenen Interesse entgegenstand, wurde einfach überklebt und weggestrichen“, sagt Birgit Rasch von LOOKSfilm.