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Zensiertes Familienleben

Das Humboldt Labor zeigt eine Kinderbibel mit überklebten Textpassagen aus der Colonia Dignidad / Sie ist eines von 38 besonderen Einzelobjekten, die von der Decke hängend präsentiert werden.

Umringt von Tieren stehen Adam und Eva unter Bäumen. Eva füttert ein Reh, während Adam die Mähne eines Löwen streichelt. Diese harmlos wirkende Zeichnung paradiesischen Lebens gehört zu den Stellen der Kinderbibel „Schild des Glaubens“, die der Sektenführer Paul Schäfer zensieren ließ. Alles, was mit Liebe und Familie zu tun hatte, wurde aus dem Alltag der Anfang der 1960er-Jahre gegründeten, auf Psychoterror, Folter und Missbrauch beruhenden Colonia Dignidad in Chile verbannt.

Das Humboldt Labor im Humboldt Forum zeigt eine solche zensierte Bibel, die einem ehemaligen Sektenmitglied gehörte, das selbst Opfer von physischem und psychischen Missbrauch wurde. „Die Kinderbibel ist ein Zeugnis für ein System von außerordentlicher Brutalität und Rechtlosigkeit“, betont Dr. Gorch Pieken, Kurator der Ausstellung. Das unscheinbare Buch hat es in sich: Es öffnet den Blick auf die erschütternde Geschichte der Colonia Dignidad, aber auch auf die Gefährdungen demokratischer Ordnung.

Ein System von Brutalität und Rechtlosigkeit

Die Kolonie diente während der Militärdiktatur unter Pinochet unter anderem als Operationsbasis und Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes. Auch die Bundesrepublik Deutschland hatte ihren Anteil daran, dass ein System, in dem Sektenmitglieder unterdrückt und Kinder vergewaltigt wurden, über Jahrzehnte existieren konnte. Paul Schäfer nutzte seine Kontakte in die Heimat unter anderem für Waffenlieferungen für die Militärdiktatur. „Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Santiago de Chile lieferte geflohene Sektenmitglieder wieder an Schäfer aus. Warum brach der deutsche Botschafter Gesetze zugunsten des Sektenführers?“, fragt Gorch Pieken.

Colonia Dignidad: Zeugnis von inneren Widersprüchen liberaler Demokratien

Auch der chilenische Militärputsch 1973 gegen den gewählten Präsident Salvador Allende war von einem demokratischen System unterstützt worden: den USA. „Die Schutzmacht der modernen Demokratie hat dafür die eigenen Werte verraten“, betont Gorch Pieken. Damit steht die Kinderbibel auch in Bezug zu aktuellen wissenschaftlichen Forschungen. Denn mit solchen inneren Widersprüchen liberaler Demokratien beschäftigt sich der Berliner Exzellenzcluster „CONTESTATIONS OF THE LIBERAL SCRIPT (SCRIPTS)“, in dessen Forschungsprojekte das Humboldt Labor Einblicke gibt.
Um die politischen Zusammenhänge zu veranschaulichen, wird neben der Kinderbibel auch eine Art Organigramm gezeigt, das Einblicke in das Abhängigkeits- und Beziehungsnetz der Colonia Dignidad gibt.

Die Kinderbibel hat das ehemalige Sektenmitglied Robert Matthusen der HU als Leihgabe überlassen. Als Kind und Jugendlicher besaß er kein eigenes Exemplar, denn die Bücher wurden unter Verschluss gehalten. Abends habe die Person, die für die Kinder zuständig war, aus der Kinderbibel vorgelesen, erinnert sich Matthusen in einem Interview mit der Leipziger Produktionsfirma LOOKSfilm, die an einer Dokumentar-Serie über die Colonia Dignidad arbeitet.

Besonders gefallen hätten ihm die Geschichten von Noah und Moses. Später habe er seinen eigenen Kindern aus dem „Schild des Glaubens“ vorgelesen.

Zu Schäfers Zeiten habe niemand damals darüber gesprochen, dass einige Bilder und Textpassagen überklebt waren. Erst, als Matthusen später eine unzensierte Bibel in die Hände bekam, verstand er, was vor sich ging. Zensiert worden war alles, was mit Familie oder Sexualität zu tun hatte – Stellen wie: „Und zu Eva sprach Gott: Mühsal und Schmerzen will ich dir schaffen, wenn du Mutter wirst.“

Paul Schäfer habe behauptet, dass Kinder direkt aus den Armen Gottes kommen, berichtet Matthusen. Männer und Frauen mussten getrennt leben, Liebesbeziehungen und Familienleben durfte es nicht geben. Wenn eine Frau in der Kolonie schwanger war, habe sie sich verstecken müssen. „Deswegen hat auch keiner von uns geahnt, wie ein Kind zur Welt kommt.“ Schäfer nutzte seine Version des Christentums, um Menschen gefügig zu machen. Er habe die Bibel missbraucht, um das „Gewissen zu fesseln“, sagt Matthusen. Die Heilige Schrift, auf die sich der Sektenführer berief, zensierte er selbst. „Was dem eigenen Interesse entgegenstand, wurde einfach überklebt und weggestrichen“, sagt Birgit Rasch von LOOKSfilm.

Die gesamte Geschichte der Kolonie beleuchtet die mehrteiligen dokumentarische Serie von LOOKSfilm, die am 10. März auf ARTE und am 16. und 23. März 2020 im Ersten ausgestrahlt wurde. Das Filmteam stützt sich auf historisches Filmmaterial aus der Colonia Dignidad, aktuelle Aufnahmen und mehr als 40 Interviews mit Personen, die mit der Kolonie zu tun hatten. „Wir erzählen die Geschichte der Colonia Dignidad aus ihrem Inneren heraus“, betont Birgit Rasch. Wie die Kinderbibel verweist auch die Dokumentation auf die vielen noch ungelösten Fragen, die mit der Schreckensherrschaft der Kolonie verbunden sind.