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Humboldt-Universität zu Berlin, Lautarchiv

Menschliche Kehlköpfe im Lautarchiv

Ein Forschungsprojekt untersuchte die Herkunftsgeschichte der „Human Remains“. Die Präparate stammen möglicherweise von Kriegsgefangenen im heutigen Namibia.

In diesem Text werden Krieg, körperliche Gewalt, menschliche Überreste und Rassismus thematisiert, die einige Leser*innen beunruhigend finden könnten.

In den vergangenen Jahren ist die Sensibilität für menschliche Überreste, die aus kolonialen Kontexten stammen und über Jahrzehnte unbemerkt oder unhinterfragt in öffentlichen Sammlungen lagerten, gewachsen. Auch der Druck aus der Zivilgesellschaft, der Politik und von Herkunftsgemeinschaften auf Institutionen, sich mit der Provenienz ihrer Sammlungsgüter auseinanderzusetzen, steigt seit einigen Jahren.

Immer wieder geraten dabei menschliche Überreste an Orten in den Blick, an denen man sie nicht vermuten würde – so wie im Lautarchiv. Die Sammlung umfasst etwa 7500 Schellackplatten, Wachswalzen und Tonbänder – unter anderem mit Aufnahmen von Sprachen und Dialekten, die unter Zwangsbedingungen in Kriegsgefangenenlagern des Ersten und Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Auch Aufnahmen deutscher Mundarten aus den 1920er-Jahren, Stimmportraits berühmter Persönlichkeiten, akustische Dokumentationen aus der DDR sowie Musikaufnahmen und Tierstimmen gehören zur Sammlung. Als die Sammlung für die Ausstellung des Humboldt Labors im Humboldt Forum aufbereitet wurde, fielen Kehlkopfpräparate in den Blick.

Warum befinden sich menschliche Präparate im Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin? Woher stammen sie? Welchen Zwecken sollten sie dienen? Diesen Fragen ist der Historiker Holger Stoecker in einem Provenienzforschungsprojekt nachgegangen. Beweisen lässt sich die These nicht, doch nach Stoeckers Recherchen erscheint es durchaus möglich, dass die Kehlköpfe aus dem heutigen Namibia stammen und während des deutschen Völkermords den Leichnamen von kriegsgefangenen Herero und Nama entnommen wurden. Nun steht zur Debatte, wie die Universität mit diesen menschlichen Überresten umgeht, deren grausames Schicksal nur vermutet werden kann und die vermutlich immer namenlos bleiben werden. Besteht in der Herkunftsgesellschaft Interesse daran, sie zurückzunehmen? Sollen sie bestattet werden?

Diese Fragen stellen sich Museen und akademische Sammlungen weltweit. Im Interview spricht der Experte für Provenienzforschung Holger Stoecker über sein Vorgehen bei den Nachforschungen und über die Ergebnisse der Recherche.

Herr Stoecker, dass sich zwei menschliche Kehlköpfe in der Sammlung des Lautarchivs befinden, war kein Geheimnis. Wann wurde die Existenz dieser Objekte problematisiert?

Als das Lautarchiv für den Umzug ins Humboldt Forum vorbereitet werden sollte, gab es im Jahr 2017 eine Begehung der Räume. Bei dieser Gelegenheit sind die beiden Präparate den Kuratoren in die Hände gefallen. Ich war nicht dabei, aber so ist es mir berichtet worden. Da solche Objekte mit besonderer Sensibilität behandelt werden müssen, war den Beteiligten ziemlich schnell klar, dass man etwas machen muss. Deshalb bin ich angesprochen worden, ob ich einen Blick darauf werfen könnte. Aus diesem anfänglichen Beratungsgespräch ist ein Provenienzforschungsprojekt entstanden.

Warum ist es wichtig herauszufinden, wo diese Objekte herkommen?

Zum einen ist auffällig, dass in einem Archiv, das sich mit Tonaufnahmen befasst, menschliche Präparate gefunden werden. Das passt auf den ersten Blick nicht zusammen. Hinzu kam, dass in der Sammlung viele Aufnahmen aus außereuropäischen Herkünften und kolonialen Kontexten vorhanden waren. Stimmen von Kriegsgefangenen aus Kolonialarmeen, die im Ersten, aber auch im Zweiten Weltkrieg in Deutschland interniert worden waren, wurden für verschiedene Zwecke aufgenommen. Die Vermutung lag auf der Hand, dass es einen Zusammenhang zu den Präparaten gibt. Es wurde jedoch schnell klar, dass es keine unmittelbare Verbindung zwischen den beiden Präparaten und konkreten Tonaufnahmen gibt. Hingegen stammten sie möglicherweise aus einen kolonialen Erwerbungskontext und befanden sich im Umfeld von rassifizierenden Forschungen. Zumindest ist das eine Erklärungsoption, die im Provenienzbericht stark geworden ist.

Was ist Provenienzforschung genau und was ist ihr ethisches Anliegen?

Die Provenienzforschung an Sammlungsobjekten hat generell zum Ziel, ihre Herkunft, die Umstände ihrer Erwerbung sowie ihre Geschichte in den Sammlungen zu rekonstruieren. Bei menschlichen Überresten haben wir es dabei gleichzeitig mit zwei Dimensionen zu tun, denn hier geht es sowohl um die Biographie eines individuellen Menschen, eines Subjektes, als auch um die Geschichte von Objekten, die aus dessen sterblichen Überresten präpariert wurden. Die Individualität der menschlichen Gebeine wurde in den vergangenen 200 Jahren, seitdem es anthropologische Sammlungen gibt, in den meisten Fällen ignoriert bzw. bewusst unsichtbar gemacht. Die Re-Humanisierung der menschlichen Präparate ist daher ein zentrales Anliegen der Provenienzforschung, vor allem wenn es sich um Gebeine und Präparate von Angehörigen ehemals kolonisierter Gesellschaften handelt. Denn die weitestmögliche Re-Humanisierung ist die Voraussetzung für einen Dialog mit der Herkunftsgemeinschaft bzw. mit deren staatlichen Repräsentanten über den weiteren Umgang mit den menschlichen Überresten. Ebenso ermöglicht eine solche Provenienzforschung die Auseinandersetzung mit konkretem historischem Unrecht und trägt zu einer kritischen Reflexion der eigenen Disziplin-, Sammlungs- und Institutionsgeschichte bei. Hinter einem anonymisierten Sammlungsobjekt wird wieder ein Mensch sichtbar – ein Prozess, der zur Zusammenarbeit mit Nachfahren führen kann und gegebenenfalls in einer Restitution und (Wieder-)Bestattung einen würdigen Abschluss findet.

Provenienzforschung kann dazu beitragen, dem verstorbenen Individuum einen Teil seiner Persönlichkeit zurückzugeben, indem sie versucht, aus historischen Quellen Identität und Biographie des betroffenen Individuums zu rekonstruieren und an den Gebeinen beziehungsweise Präparaten selbst durch Aussagen über Alter, Geschlecht, Erkrankungen, Verletzungen und Todesursache ein individuelles Schicksal abzulesen. Etwa so formuliert es auch eine Arbeitshilfe zur „Interdisziplinären Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten“, die Kollegen und ich gerade abschließen.

Wie sind Sie bei Ihren Nachforschungen vorgegangen?

Zunächst schaut man sich die Objekte selbst an und versucht herauszufinden, worum es sich handelt und wie diese Präparate aufbewahrt worden sind. Gibt es irgendwelche Informationen oder Nummern, die man zuordnen kann? Auch die unmittelbare Umgebung, also der Kontext, in dem sie verwahrt wurden, wird untersucht. Vielleicht geben benachbarte Objekte Hinweise zur Verwendung der Präparate. In diesem Fall gab es aufklappbare Modelle von einem Ohr, die offenbar Mitte des 20. Jahrhunderts für Demonstrationszwecke hergestellt worden sind. Es ist also zu vermuten, dass die Kehlkopfpräparate für Lehr- und Demonstrationszwecke verwendet wurden.

Man tastet sich dann durch die Sammlung, versucht Notizen zu finden, die beteiligten Akteure aufzuspüren und ihre Themenfelder zu durchforsten – um herauszufinden, ob sie sich irgendwann mit Kehlköpfen auseinandergesetzt haben. Das war auch hier der Fall. Es war aber leider nicht möglich, die Präparate konkret zu identifizieren. Es gab niemanden, der geschrieben hat: Ich habe mit präparierten Kehlköpfen aus dem Lautarchiv gearbeitet. Es gab nur Hinweise auf die Kontexte. Einer war, dass der Kehlkopf als Organ der Stimmbildung benutzt wurde, um „Rassenunterschiede“ zu markieren. Kulturelle Aktivitäten wie Sprechen, Stimme und Gesang wurden benutzt, um vorgeblich biologische „Rassen“ zu identifizieren.

Was konnten Sie darüber herausfinden, woher die Präparate stammen?

Relativ klar ist, dass sie in den 1930er-Jahren in einen Sammlungszusammenhang mit der jetzigen Tonsammlung im Lautarchiv gekommen sind. Damals hieß es noch „Institut für Lautforschung“. Für die Zeit davor gibt es keine konkreten Spuren der beiden Präparate. Allerdings konnten institutionelle Strukturen, Akteure, Erwerbungs- und Forschungskontexte rekonstruiert werden, die zusammengedacht in eine tentative Subjekt-/Objektbiographie führen. So gibt es die plausible Vermutung, dass die Präparate von Nama oder Herero stammen, die während des Herero-Nama-Krieges (1904-1908) gegen die deutsche Kolonialherrschaft im damaligen Deutsch-Südwestafrika in Lagern interniert und dort verstorben waren. Gestützt wird diese Vermutung von der Tatsache, dass aus Deutschsüdwestafrika, dem heutigen Namibia, eine größere Lieferung von menschlichen Kehlköpfen, von denen 38 von Nama und 15 von Herero, darunter drei von Kindern, stammten, in der Berliner Anatomie eintraf. In den Konzentrationslagern, in denen die Deutschen dort Angehörige der Herero und Nama internierten, herrschten katastrophale Lebensbedingungen, die zu einer sehr hohen Mortalität führten. Es ist bekannt, dass Gebeine und Körperteile verstorbener Gefangener bereits vor Ort zu Präparaten verarbeitet wurden. Aus diesem Kolonialkrieg stammen sehr viele menschliche Schädel und andere Körperteile, auch ganze Leichen, die nach Deutschland und hier vor allem nach Berlin verschickt worden sind. Ich habe versucht, in dem Bericht nachzuvollziehen, wie die beiden Präparate von der Anatomie über verschiedene Stationen ins Institut für Lautforschung gelangt sein könnten. Ich kann diesen Weg nicht im Konkreten belegen, sondern nur tentativ aufzeigen. Vor allem anhand personeller Verbindungen zwischen einzelnen Forschungskontexten, die durchaus nahelegen, dass die Präparate durch die Mitnahme von einer Station zur anderen in das Institut für Lautforschung gelangt sind. Dort stand in den 1930er und frühen 1940er Jahren der Zusammenhang zwischen Stimme, Sprache und „Rasse“ im Fokus der Forschung, speziell im Hinblick auf Sprachen und Sprecher im südlichen Afrika. Daher bestand sicherlich ein erhebliches Interesse daran, die beiden Kehlkopf-Präparate für entsprechende Forschungen zu verwenden, erst recht wenn damals ihre Herkunft aus dem heutigen Namibia noch bekannt gewesen war.

Was passierte dort mit ihnen?

Dort wurden die Präparate zuletzt für Demonstrationszwecke in der Lehre eingesetzt. Schließlich blieben sie ohne Verwendung als „Sammlungsrest“ liegen, gerieten aus dem Blick, überstanden einige Umstrukturierungen, wurden aber auch nicht entsorgt. Letzteres ist insbesondere in medizinischen und naturwissenschaftlichen Lehrsammlungen nicht selten der Fall, wo Objekte für die Lehre „verbraucht“ und anschließend durch neue Präparate ersetzt werden. Solche Objekte werden daher oft nicht inventarisiert. Auch die beiden Kehlkopfpräparate wurden nie dokumentiert oder gar inventarisiert. Erst als sie 2017 wieder auftauchten, zogen die beiden Präparate ein starkes Interesse auf sich. Diesmal aber nicht als Objekte für Forschung oder Lehre, sondern als sensible Human Remains. Sie erweisen sich als „blinde Passagiere“ einer Sammlungs-, Institutions- und Wissensgeschichte, die uns vor ungeahnte Abgründe führt.

Wie kann es sein, dass es in so vielen Sammlungen weltweit – auch an der Humboldt-Universität – Human Remains zu finden sind, aber sich lange niemand dafür interessiert hat?

Es stimmt schlicht nicht, dass sich – außerhalb der Sammlungen – niemand für diese menschlichen Überreste interessiert hat. Die Geschichte des Sammelns von Human Remains in kolonialen Kontexten war immer auch eine Geschichte der Ablehnung der europäischen „Sammelwut“, des Widerstands dagegen und von Rückgabeforderungen seitens betroffener Herkunftsgemeinschaften. Hierfür gibt es Belege bereits aus den Anfängen der deutschen Kolonialzeit. Nur wurden diese Stimmen in den deutschen Institutionen nicht gehört beziehungsweise bewusst ignoriert. Meine These ist, dass erst infolge des Aufbrechens der Ost-West-Konfrontation um 1989/90 eine globale Situation entstand, in der diese Stimmen lauter werden, mehr Gewicht bekamen und nicht mehr überhört werden konnten. Zugleich haben postkoloniale NGOs das Thema in die Öffentlichkeit getragen. In den Sammlungsinstitutionen gab es zunächst wenig Bereitschaft, jahrzehntelang eingeübte Praktiken hinter sich zu lassen, und transparent mit Sammlungsgut als kolonialen Kontexten umzugehen. Doch bald gab es einfach keine Argumente mehr für ein solches altes Denken. Dass nun mehr Offenheit und Bereitschaft zur Aufarbeitung besteht, liegt einerseits in einem Generationswechsel unter den zuständigen Sammlungsverantwortlichen und anderen Beteiligten begründet. Andererseits hat die Politik, nicht zuletzt aufgrund zivilgesellschaftlicher Erwartungen, den Handlungsbedarf erkannt und stellt Ressourcen für die Aufarbeitung bereit, wovon nicht zuletzt wiederum die Sammlungen und Institutionen ihrerseits profitieren.

Wie könnte es nach der Veröffentlichung Ihres Berichts weitergehen?

Es wäre zunächst von den zuständigen Akteuren zu erörtern, wie ein würdiger Umgang mit den Präparaten gestaltet werden kann, der zugleich praktikabel ist. Dieser Umgang wird am Ende sicherlich dazu führen, dass die beiden Präparate aus der Sammlung herausgenommen werden, weil sie dort aus verschiedenen Gründen nicht hingehören. Es handelt sich beim Lautarchiv in erster Linie um eine Tonsammlung und nicht um eine Sammlung von Human-Präparaten. Letztere brauchen andere konservatorische Bedingungen, um sie auf angemessene Weise aufzubewahren. Es gibt mehrere Optionen: Weil es einen möglichen Herkunftskontext gibt, ist aus meiner Sicht das Naheliegende, zunächst die namibische Seite zu befragen, ob sie Interesse hätte, die Objekte zurückzunehmen. Hierfür müssten die Verantwortlichen für das Lautarchiv, das heißt, der Sammlungskurator, die Instituts- und die Universitätsleitung das Gespräch mit der namibischen Botschaft suchen, die bereits einige Erfahrungen mit Restitutionen von menschlichen Überresten aus deutschen Sammlungen hat. Wenn es nicht zu einer Rückgabe kommt, wäre eine Option, die Präparate beispielsweise in eine anatomische Sammlung umzulagern, wo es geeignetere Aufbewahrungsbedingungen gibt. Eine dritte Option wäre, die Präparate würdig zu bestatten. Das ist ein Weg, der schon mehrfach beschritten wurde. Auch hierüber liegt die Entscheidung bei den Verantwortlichen für das Lautarchiv.

Das Lautarchiv beschäftigt sich aktuell als Ergänzung zur dieser Provenienzforschung mit den jeweiligen ethischen Implikation der verschiedenen aufgezeigten Handlungsoptionen. Auf dieser Basis wird die Direktion des Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik und das Präsidium der Humboldt-Universität zu Berlin eine Entscheidung zum weiteren Umgang mit den Kehlkopfpräparaten treffen.