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© Christian Stein

Es lohnt sich, das Spiel ernst zu nehmen

Das Humboldt Labor ist nicht nur ein physischer Ort, der betreten und betrachtet werden kann. Erfahrbar wird es auch als digitaler Raum in Form eines Spiels, das vom gamelab.berlin entwickelt wird, einer interdisziplinären Forschungs- und Entwicklungsplattform an der Humboldt-Universität. Christian Stein ist Informatiker und Germanist und forscht an der HU zu den Themen Spiele, Schnittstellen, Semantic Web und Virtual Reality.

Herr Stein, Sie arbeiten im GAMELAB.BERLIN an einer „digitalen Repräsentation“ des Humboldt Labors. Wie kann man sich das vorstellen?

Wir schaffen kein Anhängsel zu der physischen Ausstellung, sondern eine digitale Erweiterung, die gleichermaßen ernst zu nehmen ist. Das heißt: Es gibt eine digitale Repräsentation des Humboldt Labors. Allerdings eine, die künstlerisch und konzeptionell interpretiert und umgestaltet ist. Dort finden sich Objekte, die tatsächlich im physischen Humboldt Labor auftauchen, aber auch solche, die es dort nicht gibt und die ein Eigenleben entwickeln. Die Idee dahinter ist, zu sagen: Das Humboldt Labor wird nicht nur der physische Ort sein. Es ist auch ein Denk- und Experimentalraum, der im Digitalen genauso zuhause ist, nicht nur zum Auftakt, sondern dauerhaft.

Dr. Christian Stein vom gamelab.berlin forscht zur Kulturtechnik des Spiels und zur Wirkung von Spielen.

Was können Besucherinnen und Besucher dort erleben?

Wir wollen – auch in Hinblick auf unser Wissenschaftsverständnis – ausbrechen aus der reinen Darstellung von Ergebnissen, hin zu einer interaktiven, prozessualen Perspektive. Das heißt: Die Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, einen digitalen Erlebnisraum zu erkunden. Das Ganze lehnt sich an die traditionellen Point-and-Click-Adventures an, wie sie wahrscheinlich viele kennen werden. Man wird einen ganz besonderen Charakter durch die Räume des Humboldt Labors steuern können, über den wir noch nicht mehr verraten wollen. Auf dem Weg wird man Exponaten begegnen und mit diesen experimentieren können. Wir wollen Besucherinnen und Besuchern zeigen, dass es in der Wissenschaft um spielerische Neugierde und ums Ausprobieren geht. Es werden sich Medieninhalte erspielen lassen, die es nur online gibt, aber wir wollen auch Lust machen, die physische Ausstellung zu besuchen.

Was meinen Sie mit „Medieninhalten“?

Es gibt eine Reihe von Videos, die speziell produziert und nur über das Spiel zugänglich sein werden. Es sind kurze Sequenzen, die die Themen des Humboldt Labors anschaulich und unterhaltsam aufbereiten.

Wie entwickeln Sie das Spiel für das Humboldt Labor?

Das Wichtigste im Game-Design ist nicht, Mechaniken oder Technologien so zu choreographieren, dass sie eigene Erfahrungen erzeugen, Dinge spürbar machen, indem man sie selbst tut. Wir fragen uns: Welche Emotionen wollen wir erzeugen, was ist die dahinterliegende Narration, welche Spielmechaniken könnten wir nutzen? Dann beginnen wir visuell zu denken mit ersten Zeichnungen und Modellen und entwerfen die Player’s Journey, die Reise des Spielers. Wir entwickeln die entsprechende Software und testen vom ersten Tag an auch mit Externen, um sicherzustellen, dass unsere Ideen funktionieren. Denn: es kommt stark auf kleine, situative Anpassungen an. Diese Liebe zum Detail ist es, die am Ende aus einer Ansammlung von Ideen, Erzählelementen und Mechaniken ein überzeugendes Spiel macht.

Warum spielen Menschen überhaupt?

Wir sind bei unserer Forschung an der Humboldt-Universität immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass Spielen eine grundlegende Kulturtechnik des Menschen ist. Das lässt sich auch in der Kulturgeschichte wiederfinden, beispielsweise in Johan Huizingas berühmtem Werk „Homo ludens“, das den Menschen nicht als von zweckmäßigen Erwägungen geleiteten „Homo oeconomicus“ klassifiziert, sondern als ein spielendes Wesen. Im Spiel entsteht alle Kultur, so Huizinga. Das, was uns Menschen ganz wesentlich ausmacht, ist das Spiel in all seinen Facetten. Auch dann, wenn wir es gar nicht mehr Spiel nennen. Wenn wir in unserem Beruf oder in unserem sozialen Umfeld agieren: All das lässt sich wunderbar mit spieltheoretischen Perspektiven beleuchten, erklären und anders verstehen. Generell glauben wir, dass es sich lohnt, das Spiel ernst zu nehmen und sich zu fragen: Wie können wir Erlebnisse schaffen, die uns in das Spieluniversum hineinsaugen und uns Inhalte emotional, intensiv und lohnend vermitteln?

Wie schaffen Spiele das?

Grundlegende psychologische Mechanismen, die wir in vielen Spielen wiederfinden, führen dazu, dass wir gelungene Spiele als faszinierend wahrnehmen. Sie müssen aber nicht immer Spaß machen. Spiele können auch schockieren und betroffen machen. Sie involvieren emotional. Wenn sie das gut machen, will man immer wieder in diese Spielwelt zurück. Es gibt eine berühmte Definition von Salen und Zimmerman in Anlehnung an Huizinga, die besagt, dass Spiel eine Art magischer Kreis sei. Ein Kreis also, in dem andere Regeln gelten als in der Außenwelt des Nicht-Spiels. Trotzdem geht der Bezug nach außen nicht vollständig verloren. Es sind gerade die Wechselbeziehungen, die das Spiel interessant machen und von der umgekehrt die Außenwelt lernen kann. Genau diese Überschreitung zwischen dem Spiel und dem Nicht-Spiel thematisieren wir anhand sogenannter Serious Games oder der Gamification, also der Nutzung von Spielmechaniken oder Motivationselementen für die Vermittlung von Wissen, Empathie oder auch für Trainingszwecke.

In welchen Bereich unseres Lebens stoßen wir auf Gamification?

Die Game-Mechaniken sind ungeheuer mächtig und finden sich überall in unserem Alltag, von Online-Shops über Karriereentwicklung bis hin zu sozialen Medien. Auch in Bereichen, in denen wir nicht damit rechnen, werden solche Mechaniken genutzt – beispielsweise über Fortschritts-Leisten oder soziales Feedback. Es ist auch unsere Aufgabe als Wissenschaftler, darüber eine Reflexion anzustoßen und zu analysieren, wo uns diese Mechaniken überall begegnen.

Wo liegen die Gefahren?

Gerade dadurch, dass bei digitalen Spielen fast immer Daten entstehen, kann man unter dem Deckmantel eines Spiels auch Kontrollmechanismen implementieren. Diese können zum Beispiel Arbeitsbedingungen schlechter oder stressiger gestalten. Wenn ein Spiel bunt und lustig daherkommt, in Wirklichkeit aber Daten über meine Arbeitsweise sammelt und dann vielleicht über Vergleiche und Bewertungen Druck aufbaut, sind wir weit außerhalb des Magic Circles. Dann passiert das, was wir manchmal scherzhaft als Chocolate-Covered Broccoli bezeichnen. Das heißt: Es wird versucht, uns etwas mit einem schmackhaften Anstrich zu verkaufen, was uns aber in Wirklichkeit gar nicht schmeckt.

Was sind Beispiele, in denen Gamification uns unterstützen kann?

Gute Gamification geschieht in Fälle, in denen Spielerinnen und Spielern geholfen wird, einfacher und intensiver Interesse aufzubauen oder sich Wissen anzueignen – und etwas, das eher als unliebsame Tätigkeit erlebt wird, motivierender zu gestalten. Allseits bekannte Beispiele sind gamifizierte Sport- oder Sprachlern-Apps, die Millionen von Menschen effektiv helfen, ihre Ziele besser zu erreichen. Sie helfen, Fortschritt sichtbar zu machen und Motivation zu stärken. In unseren Ansätzen im gamelab.berlin versuchen wir solche Aspekte zur Wissensvermittlung zu nutzen. Dabei schließen wir kategorisch Kontrollmechanismen aus, indem wir zum Beispiel keine Personalisierung von Spielerinnen und Spielern ermöglichen.

Das gamelab.berlin entwickelt ganz unterschiedliche Projekte – von Tanzperformances bis zu Schulprojekten. Worum geht es dabei?

Generell geht es immer darum, experimentell zu erforschen, wie weit man mit Mechaniken des Spiels gehen kann bzw. sollte und welche Bereiche sich mit Perspektiven aus dem Game-Design und der Spieleforschung anders betrachten lassen. Wir haben uns auf verschiedene Bereiche gestürzt, die weit auseinander zu liegen scheinen, die aber alle großes Potenzial für die Anwendung von Spielmechaniken bieten. Beispielsweise haben wir jetzt gerade die ersten Ergebnisse für eine Studie zu Neurosurgery 360°. Das ist eine Anwendung, in der Neurochirurgen mit einem Virtual Reality Headset ausgebildet werden, um sich besser auf OP-Situationen vorbereiten zu können. Wir haben auch im Rahmen des #WirVsVirus Solution-Enabler-Programms der Bundesregierung eine unserer Apps an die Coronakrise angepasst. In Folge des größten Hackathons der Bundesrepublik haben wir so ein digitales Corona-Kartenspiel entwickelt. Es heißt Singleton #WirBleibenZuHause und geht mit Fragen, die in der Pandemie wichtig waren und sind, auf eine spielerische Art und Weise um. Dieses Spiel haben wir gerade für Pflegekräfte angepasst, die besonders von Covid-19 betroffen sind.

„Wasser für Kenia VR“ ist ein interaktives 360°-3D-Filmprojekt für Virtual-Reality-Headset, um sich mit den Theman Nachhaltigkeit, Klimawandel und Entwicklungshilfe spielerisch auseinanderzusetzen.

Sie entwickeln auch Projekte für Schülerinnen und Schüler, wie „Wasser für Kenia VR“. Worum geht es dabei?

Es geht darum, virtuell eine kenianische Schule zu besuchen. Wir schicken einen Klassensatz mit VR-Headsets von Schule zu Schule und bieten eine von Erdkundelehrern aufbereitete Doppelstunde, die sich mit Themen wie Klimawandel und Entwicklungshilfe beschäftigt und das Ganze virtuell erfahrbar macht. Das haben jetzt schon mehr als tausend Schülerinnen und Schüler erfolgreich ausprobiert und Einblicke gewonnen, die sich mit keinem Buch oder klassischem Film vermitteln lassen. Wir versuchen in all diesen Projekten, den Bezug von unserer Forschung zur Gesellschaft herzustellen und einen Mehrwert zu schaffen, der nicht im akademischen Elfenbeinturm verbleibt.

Beim gamelab.berlin arbeiten Menschen aus sehr unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Wie hat sich das entwickelt?

Das gamelab ist am Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung“ der Humboldt-Universität entstanden. Wir haben es nach dessen Ende unabhängig davon fortgesetzt. Der Exzellenzcluster war mit 46 beteiligten Disziplinen das meines Wissens größte und mutigste interdisziplinäre Experiment überhaupt. Gestaltungsdisziplinen waren von Anfang an auf Augenhöhe dabei und haben uns als gamelab nachhaltig geprägt. Wir haben Informatiker, Grafik-Designer, Game-Designer, Psychologen, aber auch Theaterwissenschaftler, Mathematiker, Philosophen, Medienwissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Architekten und mehr im Team. In dieser Mischung ergibt sich eine Atmosphäre, in der wir weiter denken können, als es der jeweilige Standard in einem Bereich nahelegen würde. Wir würden schon sagen: Gelebte Interdisziplinarität ist ein wesentlicher Teil unserer Identität.