Magazin

© Kunsthochschule Weißensee/Rapp/Unger

„Die Zukunft liegt in einer neuen Art des Analogen“

Der Exzellenzcluster „Matters of Activity“ der Humboldt-Universität erforscht die inneren Strukturen von Materialien und will diese nutzbar machen

Während anderswo über die Herausforderungen der Digitalisierung diskutiert wird, denken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Berliner Exzellenzclusters „MATTERS OF ACTIVITY“ schon weiter. „Wir sagen, dass die Zukunft in einer neuen Art des Analogen liegt“, sagt Prof. Dr. Wolfgang Schäffner, Leiter des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik und Sprecher des Exzellenzclusters. Mehr als 40 unterschiedliche Disziplinen der Humboldt-Universität arbeiten gemeinsam an einer „neuen Kultur des Materiellen“. Das bedeutet, dass sie die Eigenschaften von aktiven Materialien erforschen und nutzbar machen wollen. Aktive Materialien besitzen ein Eigenleben, sie verändern und entwickeln sich.

In der Produktionstechnik, wie sie sich in den letzten 200 Jahren entwickelt habe, seien solche Materialen nicht besonders beliebt gewesen, sagt Schäffner. Hoch im Kurs standen hingegen stabile, passive Materialien wie Stahl oder Beton. Stoffe, deren Verhalten kontrollierbar ist. Veränderungen wurden als problematisch begriffen. „Wenn Eisen rostet, dann gilt das als eine Störung“, sagt der Professor für Wissens- und Kulturgeschichte. Ein anschauliches Beispiel für aktive Materialen ist Holz, das „arbeitet“ und sich äußeren Bedingungen anpasst. Was passiert, wenn man nicht versucht, das Holz gefügig zu machen, sondern seine Aktivität nutzt? Dieser Frage will „Matters of Activity“ auf den Grund gehen.

Aus passivem Material wird aktives Material

Wie das praktisch aussehen kann, soll im Humboldt Labor, den Ausstellungsflächen der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) im Humboldt Forum gezeigt werden. Ein Beispiel sind kleine, aus schwarzen Fäden gewickelte Hocker, die sich zu größeren Sitzgelegenheiten und Skulpturen kombinieren lassen. „Das Material ist sehr leicht und extrem belastbar. Als mobiles Sitzmöbel werden sie in unserer Ausstellung den klassischen Klapphocker ersetzen“, sagt der Kurator, Dr. Gorch Pieken.

Entstanden ist diese Idee des „Stone Web“ in einem Semesterprojekt der Kunsthochschule Weißensee. Gestaltende Disziplinen, Natur- und Geisteswissenschaften arbeiten bei „Matters of Activity“ eng zusammen. „Wir denken Gestaltung nicht von oben herab, wir denken aus dem Material heraus“, erklärt die Architektin Christiane Sauer, die als Professorin für Material und Entwurf an der Kunsthochschule Weißensee lehrt. „Das Material erfüllt aus sich heraus bestimmte Funktionen. Man muss es nur in eine intelligente Form bringen.“

Im Falle des „Stone Web“ wird Basalt geschmolzen und zu Fasern gesponnen, erklärt die Professorin. „Man muss sich das ein bisschen vorstellen wie Zuckerwatte. Man kann die Masse zu einem Endlosfilament ziehen.“ Aus den dünnen, mit Bioharz getränkten Faserbündeln werden durch unterschiedliche Wickeltechniken nach Bedarf stabile oder elastische Formen erzeugt. „So ähnlich wie der Kokon der Seidenraupe.“ Eigentlich sei Basalt ein passives Material, sagt Wolfgang Schäffner. „Es kann aber aktiv werden aufgrund einer anderen, faserförmigen Struktur.“ Ziel des Exzellenzclusters ist, solche Strukturen zu ergründen und nutzbar zu machen. Traditionell werde Materie als etwas Passives gedacht, Motor oder Geist als etwas Aktives, sagt Schäffner. Der Exzellenzcluster wolle an dieser Sichtweise rütteln. Einer der Vorteile von aktiven Materialien sei der geringere Energieverbrauch, erklärt der Professor. Die Fokussierung auf passive Materialien sei ein Grund für das gegenwärtige ökologische Desaster. Die Digitalisierung führe – anders als anfangs angenommen – zu einem extrem hohen Energieaufwand. Außerdem lasse sich nicht abbaubarer Müll vermeiden, wenn man auf Materialien setze, die sich nach Gebrauch wieder in den Kreislauf der Natur einfügen.

Klimaschonende Materialien ein Thema für „Matters of Activity“

Dieser ökologische Ansatz passt gut in das Konzept der Ausstellung, die sich schwerpunktmäßig mit der Wechselwirkung und der Krise naturaler und sozialer Systeme beschäftigt. „Die Nutzung energieeffizienter Materialien kann vielleicht schon dabei unterstützen, die Klimaziele der UN-Klimakonferenz von Paris zu erfüllen. Ein Thema, mit dem wir uns ausführlich in der Ausstellung befassen“, betont Gorch Pieken. Entsprechend groß ist der Raum, den „Matters of Activity“ einnehmen wird.

Auf 25 Quadratmetern des Theatervorhangs im Hauptsaal werden Arbeiten und Ergebnisse des Exzellenzclusters vorgestellt. Das Eingangsbild eines riesigen Fischschwarms, der auf den Vorhang projiziert wird, ist von den Forschungen des Clusters inspiriert. „Der Schwarm erinnert die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von „Matters of Activity“, an Zellbestandteile oder organische Elemente, die sich ähnlich verhalten wie Tierschwärme“, berichtet Gorch Pieken.

Tatsächlich sei der Begriff „Active Matter“ in der Physik ursprünglich für die Formationen von Vogelschwärmen verwendet worden, erklärt Wolfgang Schäffner. Die Tiere verhielten sich nach bestimmten Regeln zueinander – genauso wie Materialteilchen. Der Fischschwarm veranschauliche im Großen, was beispielsweise bei Holz im Kleinen passiere.

© Kunsthochschule Weißensee/Rapp/Unger

Das „Stone Web“ ist gleichermaßen leicht wie stabil.

„Austausch mit der Gesellschaft so wichtig wie Forschung und Lehre“

Wie sich Fasern zusammensetzen oder Gewebe konstruiert sind, untersuchen die Forscherinnen und Forscher an unterschiedlichsten Materialien. Sie betrachten traditionelle Praktiken des textilen Webens – etwa in Lateinamerika und Afrika. Selbst das menschliche Gehirn wird bei „Matters of Activity“ als Materie mit einer geometrischen Grundstruktur betrachtet. „Unser Gehirn ist ein riesiger Vogelschwarm aus neuronalen Zellen, die auch durch Fasern verwoben sind“, erklärt Wolfgang Schäffner. Auch mikrobielle Strukturen, die von Bakterien gesponnen werden, werden erforscht. Biofilme, Lebensgemeinschaften von Mikroben in Petrischalen, werden auch in der Ausstellung zu sehen sein. „In Form unglaublich schöner, in maximaler Vergrößerung und im Zeitraffer aufgezeichneter Mikroskopaufnahmen.“ Die Strukturen dieser Lebensgemeinschaften von Mikroben ähnelten in der Vergrößerung menschlichen Webarbeiten, erzählt Gorch Pieken.

Es sei dem Exzellenzcluster ein wichtiges Anliegen, durch die Ausstellung im Humboldt Forum in Dialog mit Besucherinnen und Besuchern treten zu können, betont Wolfgang Schäffner. „Wir haben die Vorstellung, dass der Austausch mit der Gesellschaft so wichtig wie Forschung und Lehre sein muss.“