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© Privatbesitz Familie Dierks

Die Stimme des Urgroßvaters

Nachfahren können beim Entschlüsseln der Geschichten und Entstehungsbedingungen von Aufnahmen im Lautarchiv helfen – wie der Urenkel eines Beamten, der in den 1930er-Jahren eine Dialektaufnahme eingesprochen hat.

Die Gesichter von Vorfahren kennen viele Menschen aus Fotoalben. Aber wie klangen ihre Stimmen? Friedrich Dierks hat das Glück zu wissen, wie sein Urgroßvater sprach. In der Familie war bekannt, dass sich im Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin eine Tonaufzeichnung befindet, die Hinrich Dierks 1936 eingesprochen hat. Als sein Urenkel um eine digitale Kopie bat, erfuhr er, dass in der geplanten Ausstellung im Humboldt Labor auch die Aufnahme seines Großvaters eine Rolle spielen würde.

Ein glücklicher Zufall, denn Friedrich Dierks weiß viel über das Leben seines Urgroßvaters und besitzt historische Fotos, die er zur Verfügung stellt.

Der 1867 geborene Hinrich Dierks war ein umtriebiger Mann. Als Schreiber auf einem Schiff umrundete er die Welt und wurde später gehobener Beamter im Reichsmarineministerium. Trotzdem bewahrte er einen engen Bezug zu den bäuerlichen Verhältnissen, aus denen er stammte.

Über Hinrich Dierks wissen die Kuratorinnen und Kuratoren der Ausstellung – auch durch den Kontakt zum Urenkel – relativ viel. Bei vielen Menschen, die in den 1920er- oder 1940er-Jahren Aufnahmen eingesprochen haben, sieht das anders aus. „Deshalb fänden wir es spannend, so viele Nachfahren wie möglich zu finden“, sagt Antonia von Trott zu Solz. Die Sprachwissenschaftlerin ist am Humboldt Labor für die Präsentation des Lautarchivs zuständig, das über eine Sammlung von etwa 7.500 Schellackplatten, Wachswalzen und Tonbändern verfügt. Darunter finden sich beispielsweise Stimmporträts berühmter Persönlichkeiten des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Den Kern des Archivbestands aber bildet die Dokumentation verschiedenster Sprachen und Dialekte.

© Privatbesitz Familie Dierks

Portrait von Hinrich Dierks

Die letzten Zeugnisse verschwundener Dialekte

„Es sind teilweise die einzigen verbliebenen Zeugnisse von inzwischen nicht mehr existenten sprachlichen Varianten“, sagt Antonia von Trott zu Solz. Ein Beispiel sind Aufnahmen aus der Gottschee in Slowenien. Durch Umsiedlungsprozesse wurde die Sprachinsel zu einem großen Teil aufgelöst, erklärt die Sprachwissenschaftlerin. Für heute über andere Länder verstreute Minderheiten seien solche Aufzeichnungen bedeutsam, um mehr über ihre eigene Geschichte zu erfahren.

Zur deutschen Sprache gibt es mehr als 700 Aufnahmen aus den 1920er- bis 1940er-Jahren. Das Einsprechen fand meist freiwillig im Heimatdorf statt oder die Sprecher und Sprecherinnenen reisten eigens zum Aufnahmeort Berlin oder Marburg an. Einige der deutschen Sprach- und Gesangsproben wurden während des Zweiten Weltkrieges in Umsiedlungslagern sogenannter „Volksdeutscher“ angefertigt, die als Deutsche angesehen wurden, aber außerhalb der Grenzen des Reiches lebten. „Sie trugen oft mit nationalsozialistisch-konformen Aussagen zur NS-Propaganda bei“, sagt von Trott zu Solz.

So bedeutsam die Aufnahmen für die heutige Forschung sind, so problematisch ist die Entstehungsgeschichte eines anderen Sammlungsteils des Lautarchivs. Als Hinrich Dierks seine Aufnahme einsprach, war das Institut für Lautforschung Teil einer bereits gleichgeschalteten, antisemitischen Universität. Viele Mitarbeitende des Instituts waren Mitglieder der NSDAP und beteiligten sich an nationalsozialistischer Wissenschaft.

Ein Großteil der nicht-deutschen Sprachaufnahmen wurde in Kriegsgefangenenlagern des Ersten und des Zweiten Weltkriegs angefertigt. In dieser Zwangslage sprachen kriegsgefangene Soldaten hauptsächlich aus französischen und britischen Kolonialgebieten ihre als „exotisch“ klassifizierten Sprachen in das Grammophon.

Nachfahren könnten dabei helfen, mehr über die Menschen hinter den Stimmen zu erfahren

Der Kontakt zu Nachfahren der Menschen, deren Stimmen auf den Aufnahmen zu hören sind, könnte auch dabei helfen, die Umstände zu klären und mehr über die Menschen zu erfahren, deren Stimmen wir heute noch anhören können.

Im Humboldt Labor wird einerseits ein Blick in die Geschichte des Archivs geworfen und der Zusammenhang zwischen Politik, Macht und Medien diskutiert. Spannend sind die Aufnahmen aber auch, weil sie einen Einblick in heutzutage teilweise unbekannte kulturelle Techniken bieten.

So werden auch sechs Aufnahmen zu hören sein, die sich mit dem Thema Landwirtschaft beschäftigen – darunter diejenige von Hinrich Dierks.

Jemand, der des Plattdeutschen nicht mächtig ist, versteht nur Brocken des dreiminütigen Textes. „Davon kann ich mitschnacken“, sagt er am Anfang. Später ist von Spinnmaschinen und Tüchern die Rede.

Die Passage, in der er in einem niederdeutschen Dialekt über den Anbau von Flachs spricht, stammt aus seinem Buch „Aus dem Tagewerk Deiner Väter“.

Dierks hatte damals Sorge, dass das Wissen um landwirtschaftliche Techniken, aber auch um seinen Dialekt verloren gehe. Tatsächlich erscheinen Sprache wie Inhalt für ungeübte Ohren heute fremd. „Das zeugt nicht nur von einer sprachlichen, sondern auch von einer kulturellen Veränderung“, sagt Antonia von Trott.

Das Leben von Hinrich Dierks

Die Stimme des eigenen Urgroßvaters zu hören, sei ein seltsames Gefühl, erzählt Friedrich Dierks. „Von der Qualität her ist es ja so, als ob er das heute eingesprochen hätte.“ Der lebhafte Eindruck der Aufnahme passe zu dem Bild, das er von seinem Verwandten habe. „Ich glaube, er war jemand, der gut Geschichten erzählen konnte.“

Zur Legende aber wurde der Urgroßvater aus einem anderen Grund. „Er hat den Sprung aus der Bauernschaft in eine Anstellung als gehobener Beamter im Reichsmarineministerium geschafft“, berichtet Friedrich Dierks. Er wurde so zum Inbegriff eines enormen sozialen Aufstiegs.

Geboren wurde Hinrich Dierks 1867 in Aschhauserfelde bei Oldenburg. Er wuchs in einer Kate auf, in der Mensch und Vieh zusammenwohnten. Klug sei er gewesen, aber nicht sehr kräftig, berichtet sein Urenkel. So wurde Dierks mit 14 Jahren zu einem Rechtsanwalt als Schreiber in die Lehre gegeben – was ihm scheinbar auf Dauer zu langweilig war. Denn mit 17 Jahren bewarb er sich bei der kaiserlichen Marine als Schiffsschreiber. Auf der SMS Leipzig fuhr er unter anderem nach China, Japan und Südafrika. „Er ist tatsächlich einmal rund um die Welt gefahren“, sagt Friedrich Dierks. Später arbeitete er in Berlin im Reichsmarineministerium. Er ist offenbar Zeit seines Leben am Aufbewahren seiner Erinnerungen interessiert gewesen, denn er hat drei Bände Lebenserinnerungen hinterlassen: den ersten geschrieben 1916 mit 49 Jahren und den letzten nach seiner Pensionierung in Berlin.

Sicherlich würde er sich freuen, wenn er wüsste, dass seine Audioaufnahme im Humboldt Forum bald einem großen Publikum präsentiert wird. „Er war sehr interessiert daran, dass der Dialekt, den er noch sprechen konnte, bewahrt wird“, sagt Antonia von Trott.

Teilweise sei eingetreten, was Dierks damals befürchtet habe. Denn viele Worte seien inzwischen verschwunden. Aber die Prophezeiung, dass Dialekte ganz aussterben – oder die gesamte deutsche Sprache von anderen Sprachen verdrängt werden würde – habe sich nicht erfüllt. Wandel sei Teil eines natürlichen Prozesses, sagt die Wissenschaftlerin. „Sprache verändert sich immer, sie war niemals starr.“