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© Charité – Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Neurochirurgie / Humboldt-Universität zu Berlin, Exzellenzcluster "Matters of Activity. IMAGE SPACE MATERIAL“ (MoA)

Begegnung mit dem digitalen Zwilling unseres Gehirns

An einer Forschungsstation im Humboldt Labor wird das Projekt „Adaptive Digital Twin“ des Exzellenzclusters „Matters of Activity“ und der Charité Berlin einen Blick ins menschliche Gehirn werfen. 3D-Modelle dieses komplexen Organs werden als holografische Darstellungen gezeigt. In der klinischen Praxis unterstützen solche Visualisierungen zum Beispiel bei der Vorbereitung von Operationen.

Holografische Projektionen gelten als obligatorisches Inventar von Science-Fiction-Serien. Doch inzwischen sind sie in der Realität angekommen – wie holografische Displays im Humboldt Labor zeigen werden. An zwei solcher „Looking Glasses“ können 3D-Modelle des menschlichen Gehirns inspiziert werden, virtuelle Zwillinge unseres komplexesten Organs.

Solche Visualisierungen sind nicht nur aus ästhetischen Gründen reizvoll, sie dienen medizinischen Zwecken. „Das ist etwas, womit wir täglich arbeiten“, berichtet Lucius Fekonja, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klinik für Neurochirurgie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Exzellenzclusters „MATTERS OF ACTIVITY. IMAGE SPACE MATERIAL“ (MoA). Er leitet die Entwicklung des „Adaptive Digital Twin“, eines „anpassungsfähigen, digitalen Zwillings“ des menschlichen Gehirns. Angesiedelt ist dieses Projekt am Image Guidance Lab (IGL), einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der neurochirurgischen Klinik der Charité und des Exzellenzclusters MoA der Humboldt Universität zu Berlin, unter der Leitung von PD Dr. med. Thomas Picht.

„Anpassungsfähiger digitaler Zwilling“ des menschlichen Hirns

Entwickelt werden dort unterschiedliche Visualisierungsstrategien, die in der Neurochirurgie genutzt werden. Der „anpassungsfähige digitale Zwilling“ des menschlichen Gehirns wird mithilfe von unterschiedlichen Daten modelliert: Bilder der Magnetresonanztomographie (MRT) werden eingespeist, aber auch Ergebnisse neuropsychologischer Tests – verbunden mit statistischer Auswertung zur Klassifikation oder Korrelation der Daten und des Krankheitsbildes. „Die strukturellen werden dabei mit funktionellen Daten kombiniert – beispielsweise die Anatomie des individuellen Gehirns mit der Sprachfunktion“, erklärt Fekonja. Das bedeutet: Der Adaptive Digital Twin ist mehr als eine Momentaufnahme. Er ist in Bewegung und reagiert auf Veränderungen. Ziel sei, auf diese Weise Prozesse und Eingriffe zu simulieren, berichtet der Projektleiter. „Wir können beispielsweise sehen, was passiert, wenn wir bestimmte Teile des Hirns stimulieren.“

Der Adaptive Digital Twin funktioniere ähnlich wie ein Online-Kartendienst. Er biete Orientierung und Handlungsanweisungen auf der virtuellen Landkarte des Gehirns. Wie gut das funktioniert, hänge von der der Qualität der eingespeisten Informationen ab. „Je präziser die Daten sind, desto präziser ist das Modell“, sagt Fekonja. Denn gerade bei Eingriffen am Gehirn kommt es auf Genauigkeit an.

Diese dreidimensionale Landkarte dient unterschiedlichen Zwecken. Medizinerinnen und Mediziner können damit beispielsweise die Lage eines Tumors im Hirn visualisieren. Ein Ziel sei, durch die Möglichkeit einer virtuellen Navigation im Kopf eines Patienten oder einer Patientin bestimmte Eingriffe überflüssig zu machen, erklärt der Projektleiter. Auch während einer OP selbst kann der Adaptive Digital Twin konsultiert werden.

© Charité – Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Neurochirurgie / Humboldt-Universität zu Berlin, Exzellenzcluster "Matters of Activity. IMAGE SPACE MATERIAL“ (MoA) / Lucius Fekonja

Connectome-Konstruktion eines Patienten mit einem Tumor im sprach-eloquenten Areal des Gehirns. Die Verbindungsstärken der weissen Substanz sind als Kanten (edges) mit einer heat map dargestellt (dunkel=schwache Verbindung, hell=starke Verbindung). Die kortikalen Areale des Gehirns und deren Grösse sind als Knoten (nodes) in Form von Kugeln illustriert. Zusätzlich sind 3 orange-farbene TMS-Punkte zu sehen. TMS=Transkranielle Magnetstimulation. In diesen Bereichen konnte in diesem Fall das Sprachnetzwerk des Patienten nicht-invasiv gestört und entsprechend kartografiert werden.

Besuchende erhalten Einblicke in ein laufendes Forschungsprojekt

Die Forschungsstation im Humboldt Labor wird aus den holografischen Displays, zwei Hochleistungscomputern und einem Tablet bestehen, auf dem beispielsweise Filme von Operationen gezeigt werden können. Geplant sei, dass einmal pro Woche ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin des Image Guidance Labs ihren Arbeitsplatz in die Ausstellung verlegt und an dem genannten Equipment direkt arbeitet, berichtet Friedrich von Bose, stellvertretender Leitender Kurator im Humboldt Labor. „So können die Besucherinnen und Besucher einen Einblick in die Arbeit an den dreidimensionalen Visualisierungen erhalten und aufkommende Fragen auch direkt ansprechen.“

Für das Publikum ist das eine Chance, Einblicke in ein laufendes Forschungsprojekt zu bekommen. So komplex das Gehirn sein mag – Anknüpfungspunkte gibt es genug. „Viele Menschen sind in ihrem Leben schonmal mit der Neurochirurgie in Berührung gekommen, beispielsweise weil sie jemanden kennen, der wegen eines Hirntumors operiert werden musste“, sagt von Bose. Auch für den Exzellenzcluster ist der Kontakt mit Besucherinnen und Besuchern spannend. Wie wirkt ihre Arbeit auf Menschen, die sonst nichts mit Neurochirurgie zu tun haben? Ist es verständlich, was sie dort tun? Was sind mögliche ethische Bedenken?

Auf den holografischen Displays können die Forscherinnen und Forscher unterschiedliche Anteile des Gehirns sichtbar machen – beispielsweise die Graue und die Weiße Substanz. „Auch ein Tumor kann als dreidimensionales Objekt hervorgehoben werden“, erklärt Fekonja. Wie bei einer Spielkonsole sollen Besucherinnen und Besucher die 3D-Modelle im Raum bewegen können, um sie von allen Seiten betrachten zu können. Die Monitore bieten auch die Möglichkeit, Vergleiche zwischen verschiedenen, auch krankheitsbedingten Zuständen des Gehirns anzustellen. Unterschiedliche internationale Arbeitsgruppen forschen an digitalen Zwillingen, berichtet der Projektleiter. Die Besonderheit am Image Guidance Lab sei, dass die Anwendungen in dem Kontext der Neurochirurgie entstünden. „Fortgeschrittene Bildgebungsmethoden werden in der Regel in der Grundlagenforschung entwickelt und benötigen Zeit, bis sie in die klinischen Praxis Einzug finden“, sagt der Wissenschaftler.

Der Adaptive Digital Twin hingegen werde direkt in der Praxis entwickelt und eingesetzt. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal sei, dass der Design-Aspekt von vornherein mitgedacht werde. „Die Gestaltung soll so nutzerfreundlich wie möglich sein“, betont Fekonja, der Wissenschaftliche Visualisierung und Erkenntnis-Visualisierung in Luzern und Zürich studiert und seine Dissertation in der theoretischen Medizin an der Charité verfasst hat. Der Exzellenzcluster „Matters of Activity. Image Space Material“ hat die Vision, das Analoge in der Aktivität von Bildern, Räumen und Materialien im Zeitalter des Digitalen neu zu entdecken. Formen, Gestaltung und Materialität spielen eine zentrale Rolle.

Erkennen wir uns selbst?

Der Adaptive Digital Twin zeigt also auch, was Interdisziplinarität in der modernen Forschung bedeutet. „Für uns ist das auf mehreren Ebenen ein besonderes Objekt“, betont Friedrich von Bose. Es eröffne beispielsweise die Diskussion, was nun das „wissenschaftliche Objekt“ in dieser Installation ist – ist es das „Looking Glass“ mit der holografischen Projektion? Ist es das bildgebende Verfahren, das dieser zugrunde liegt? Deutlich wird hier gerade im Kontrast zu den umliegend ausgestellten Objekten der Wissenschaftsgeschichte, dass es der Akt des Ausstellens selbst sein kann, der etwas zum wissenschaftlichen Objekt macht. Auch stelle der Adaptive Digital Twin einmal mehr die vieldiskutierte Frage nach der Bedeutung von Bildern in der Wissenschaft – und in der medizinischen Praxis. Für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt oder Ärztin und Patient oder Patientin spielen Visualisierungen eine zentrale Rolle, sagt der Kurator. Unter Umständen könne ein Arzt oder eine Ärztin, der oder die bei einem Aufklärungsgespräch per Hand eine Zeichnung des Gehirns fertigt, ein größeres Vertrauen aufbauen als wenn er bzw. sie einen hochaufgelösten MRT-Scan zu Hilfe nimmt.

Wie die holografischen Projektionen auf Besucherinnen und Besucher der Ausstellung wirken, wird sich im Humboldt Labor zeigen. Welche Gefühle beschleichen uns beim Anblick dieses digitalen Zwillings? Erkennen wir uns selbst – oder fühlen wir uns wie bei einem Besuch auf dem Raumschiff Enterprise? Sind wir begeistert, erstaunt oder gar erstarrt? Die Reaktionen auf die modernen Visualisierungsmöglichkeiten sind auch für die Forscherinnen und Forscher interessant.